Kein einziges Wort by Andreas Jungwirth

Kein einziges Wort by Andreas Jungwirth

Autor:Andreas Jungwirth [Jungwirth, Andreas]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Jugendroman
Herausgeber: Ravensburger
veröffentlicht: 2014-03-31T22:00:00+00:00


Ich falle aus dem Bett und wache auf.

Eine Schrecksekunde später drehe ich mich vom Bauch auf den Rücken. Von draußen kommt Licht ins Zimmer. Vor dem Fenster steht ein Baum. Die Blätter füllen den Rahmen komplett aus. Der Wind zerrt an den Ästen.

Langsam richte ich meinen Oberköper auf und sitze mit ausgestreckten Beinen auf dem Boden. Aber wo –?

Das ist NICHT mein Zimmer. Auf keinen Fall. AUF KEINEN FALL bin ich zu Hause in der U-Straße.

Und dass ich geträumt habe, ja. Aber was –?

Draußen hält ein Zug. Die Bremsen quietschen und verstummen.

Und plötzlich bin ich im Bilde: Es ist das Bett, in dem schon Mama als Kind geschlafen hat. Das sind die Puppen, mit denen sie gespielt, und die Bücher, die sie gelesen hat. Und wenn der Wind vom Wasser hereinweht, riecht man die salzige Meeresluft. Bläst er besonders heftig, kann man von hier sogar die Wellen ans Ufer klatschen hören, obwohl der Strand mindestens einen Kilometer entfernt ist.

Der Zug stößt ein Signal aus und fährt wieder ab. Man hört ihn noch eine Weile, dann verstummt er.

Mamas Elternhaus war früher ein Bahnhofsgebäude gewesen. Oma und Opa haben es vor Ewigkeiten gekauft und in ein Wohnhaus umgebaut. Seitdem müssen die Reisenden ihre Tickets an einem Fahrscheinautomaten lösen und bei Regen stehen sie in einem Wartehäuschen unter. Das ist mir alles aus Zeiten bekannt, als meine Eltern, Anne und ich regelmäßig unsere Ferien bei Oma und Friedolin verbracht haben.

Nur was ich geträumt habe, weiß ich immer noch nicht –

Nach sechseinhalb Stunden Zugfahrt und viermal umsteigen fuhr ich am ersten Tag der Sommerferien, mit fast einer Stunde Verspätung, in der Station neben Omas Haus ein. Oma erwartete mich bereits am Bahnsteig. Friedolin, mit seinem riesigen Bart und dem grauen Pferdeschwanz, stand neben ihr. Friedolin ist Omas zweiter Mann. Opa habe ich nie kennengelernt. Seit ich denken kann, lebt Oma mit Friedolin zusammen.

Zwischen den beiden stand ein Mädchen, hatte den Mund komisch verzogen und suchte mit den Augen nach mir. Als die Waggontür aufging, fragte es: »Das ist er, oder?«

»Ich denke schon!« Oma musterte mich ungläubig.

Auch ich benötigte ein paar Augenblicke, um in dem Mädchen DIE Silke wiederzuerkennen, die vor zwei Jahren mindestens einen Kopf kleiner war, eine Million Sommersprossen hatte und kurze, strubbelige Haare. Jetzt trägt Silke ihre Haare lang, hat plötzlich irrsinnig lange Beine und ihr T-Shirt wölbt sich im oberen Bereich etwas.

»Natürlich ist er es!« Oma lachte.

Friedolin nahm mir meine Reisetasche ab und ich sprang auf den Bahnsteig hinunter.

»Schön, dass du da bist!« Oma drückte mir einen Kuss auf die Stirn.

Ich nickte.

Silke nickte auch. Wie ein zeitverzögertes Spiegelbild. »Ihr habt mir nicht erzählt, dass er in der Zwischenzeit stumm geworden ist.«

SPINNT DIE ODER WAS?

»Er ist sicher müde von der Reise.« Friedolin hatte gekocht und sie hatten mit dem Essen auf mich gewartet. »Hast du Hunger?«

»Ja, ich … ich … ich …« Ich starrte die ganze Zeit nur Silke an.

»Okay«, unterbrach sie mich. »Er ist nicht stumm. Aber er stottert«, und bekam umgehend von Friedolin einen Klaps auf den Hinterkopf.

»Aua!«

»Wenn du weiterhin nicht nett zu unserem Gast bist …« Friedolin sprach seine Drohung nicht zu Ende.



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